»AUSDRUCK SEINES URSPRUNGS ZU SEIN,
IST VIELLEICHT DAS BESTE,
WAS EINEM KÜNSTLER GELINGEN KANN«
Böckstiegels Werk ist von einem großen Spektrum künstlerischer Ausdrucksformen geprägt - es reicht über eine Vielzahl von Gemälden, Aquarellen, Zeichnungen und Druckgrafiken bis zu Mosaiken, gestalteten Glasfenstern, Skulpturen, Reliefs, farbigen Möbeln und schließt die künstlerische Gestaltung seines Elternhauses ein.
Peter August Böckstiegel wird am 7. April 1889 in Arrode bei Werther, einem im Ravensberger Hügelland am Teutoburger Wald gelegenen Dorf, geboren. Er ist das fünfte von sechs Kindern. Seine Eltern Wilhelm (1856–1931) und Friederike Böckstiegel (1855–1929) sind Kleinbauern und Leineweber.
Von 1895 bis 1903 besucht Böckstiegel die Volksschule in Werther. Schon früh zeigt sich sein künstlerisches Talent und die Eltern ermöglichen ihm eine Lehre als Maler beim Bielefelder Malermeister Rottmann. Gleichzeitig erhält er in der Fachschule der Malerinnung Unterricht durch den Künstler Ludwig Godewols. Dieser wird auf Böckstiegels Talent aufmerksam und fördert ihn durch privaten Zeichenunterricht.
Seine künstlerische Ausbildung beginnt Böckstiegel an der am 1. April 1907 eröffneten Handwerker- und Kunstgewerbeschule in Bielefeld. Dort übernimmt Ludwig Godewols, bekannt als strenger aber der modernen Kunst gegenüber aufgeschlossener Lehrer, die Leitung der Maler- und Lithografenklasse. Böckstiegel und einige seiner Mitschüler gründen 1909 die Künstlervereinigung »Rote Erde« und ergreifen die Initiative, in der wachsenden und wirtschaftlich prosperierenden »Leineweberstadt« wahrgenommen zu werden. Dort gibt es neben der kleinen, aber progressiven Galerie von Otto Fischer aber keine nennenswerten Kunstsammlungen oder ein Museum, in dem die Schüler Ausstellungen besuchen und Anregung finden könnten. Daher organisiert Godewols für seine Klasse im Jahr 1909 eine Reise zum Folkwang-Museum in Hagen. Die dort ausgestellten Werke aus der Sammlung von Karl-Ernst Osthaus beeindrucken Böckstiegel, ganz besonders die Bilder der französischen Impressionisten und Vincent van Goghs. 1912 reist die Klasse zur »Sonderbund-Ausstellung« nach Köln. Hier können sie in großer Zahl die Werke der »Väter der Moderne«, Paul Gauguin, Paul Cézanne und Vincent van Gogh, aber auch von Edvard Munch und den Künstlern der »Brücke« studieren. Später im Jahr besucht Böckstiegel die El-Greco-Ausstellung in Düsseldorf. Kurz zuvor hat Böckstiegel seine erste Einzelausstellung bei Otto Fischer in Bielefeld, wo frühe Radierungen und Lithografien von ihm gezeigt werden.
Ab dem 1. November 1913 setzt Böckstiegel sein Studium an der Königlichen Akademie der bildenden Künste in Dresden fort. Er schreibt sich zunächst in die Klasse von Oskar Zwintscher ein, später wird er als Meisterschüler zu Otto Gussmann wechseln. Er erhält ein bescheidenes Stipendium der Stadt Bielefeld und eine private Förderung durch einen Rechtsanwalt. Böckstiegel lernt schon bald die jungen Maler Bernhardt Kretzschmar und Conrad Felixmüller kennen, in dessen Schwester Hanna Müller (1894–1988) er sich verliebt. Während er im Frühjahr einige Wochen im nahegelegenen Goppeln verbringt und sich mit einigen Kommilitonen in der Freilichtmalerei erprobt, kehrt er im Sommer nach Arrode zurück – und hilft seiner Familie wie üblich bei der Ernte. Der Erste Weltkrieg ist ausgebrochen.
Am 2. Januar wird der Preuße Böckstiegel als »ungedienter« Landsturmmann in ein sächsisches Regiment eingezogen. Der Stützpunkt seiner Einheit ist im schlesischen Breslau, in den Dörfern und Industrieanlagen der Umgebung wird Böckstiegel die nächsten Monate mit Übungs- und Wacheinsätzen verbringen. Daneben kann er künstlerisch tätig sein, in Breslau sogar die Kunsthandlungen aufsuchen und an der dortigen Akademie in einem Atelier großformatige Lithografien drucken. Seine Bitten, als Künstler vom Kriegsdienst befreit zu sein, werden jedoch wiederholt abgelehnt. Im Juli 1916 wird Böckstiegels Einheit in den Norden des heutigen Weißrusslands versetzt, ab Mai 1917 im rumänischen Tragoviste stationiert, nach einem weiteren Jahr kommt der Künstler in die Ukraine. Böckstiegel hält über die Feldpost engen Kontakt mit seiner Verlobten Hanna und seinem Freund Felixmüller, der ihn über künstlerische und politische Ereignisse informiert. Böckstiegels Werke können in den Kriegsjahren in mehreren Ausstellungen gezeigt werden, erst in den letzten Kriegsmonaten wird die zunehmend dramatische Realität des Krieges künstlerische Arbeit immer mehr behindern. Böckstiegel erlebt das Kriegsende im ukrainischen Nikolajew am Schwarzen Meer. Erst im März 1919 kann er mit seiner Einheit die Stadt mit einem englischen Truppentransporter über das Schwarze Meer verlassen.
Erst am 20. April kehrt Böckstiegel nach Dresden zurück. Dort heiratet er am 5. Juli Hanna Müller, Trauzeugen sind Conrad Felixmüller und seine Frau Londa. Das junge Paar bezieht eine kleine Wohnung im Erdgeschoss der Jacobistraße 20b in Dresden-Blasewitz, ihre »Hochzeitsreise« führt sie im gleichen Sommer in Böckstiegels Elternhaus nach Arrode. Hier und in Bielefeld beginnt der Künstler damit, alte Verbindungen wieder aufzunehmen und neue zu knüpfen: Die »Rote Erde« findet sich zu mehreren Ausstellungen zusammen, der kunstbegeisterte Lehrer Dr. Heinrich Becker und einige für die moderne Kunst eingenommene Sammler bemühen sich um Böckstiegels Werke. Sie werden dem Künstler zu treuen Unterstützern. Die Stadt Bielefeld erwirbt erste Werke des Künstlers. Bis 1945 verbringt er die Zeit vom Frühsommer bis November in seinem Elternhaus, seine Familie wird ihn in vielen Jahren nur für die Sommerferien begleiten. Im Winter bleibt Dresden Böckstiegels Lebensmittelpunkt. Am 12. Februar 1920 wird dort die Tochter Sonja geboren.
Bereits im Januar 1919 ist Böckstiegel noch in Abwesenheit Mitglied der Künstlergruppe »Dresdner Sezession Gruppe 1919« um Conrad Felixmüller und Otto Dix geworden. Er nimmt zwar an mehreren Ausstellungen und der publizistischen Tätigkeit der avantgardistischen Gruppe teil, tritt jedoch schon Ende des Jahres 1920 wieder aus. Bis 1921 bleibt er als Meisterschüler an der nun Staatlichen Kunstakademie eingeschrieben. Er behält sein Atelier in der Zirkusstraße, ist aber nun als freischaffender Künstler tätig. Für das Gemälde Meine Eltern (1919) erhält er das Carlo-Torniamentische Reisestipendium der Akademie. Am 20. Mai 1921 wird ihm zudem ein »Ehrenzeugnis mit dem dazugehörigen Geldpreis« ausgestellt, das Pendant zum Großen Sächsischen Staatspreis, den Böckstiegel als Westfale nicht erhalten kann. In dieser Zeit beginnt er, Ausstellungen in ganz Deutschland mit seinen Werken zu beschicken und eigene »Einzelausstellungen« in Museen und Ausstellungshäusern zu zeigen. Böckstiegel wird zudem Mitglied der »Dresdner Künstlervereinigung« und des »Deutschen Künstlerbundes«.
Am 12. Februar 1925 wird Böckstiegels Sohn Vincent geboren. Trotz häufiger wirtschaftlicher Notlagen beginnt Böckstiegel in diesen Jahren verstärkt, Kunstwerke seiner Freunde und Zeitgenossen zu erwerben – darunter vor allem Grafiken von Käthe Kollwitz, Ernst Barlach, den Künstlern der »Brücke«, Edvard Munch und Conrad Felixmüller sowie mindestens zwei Plastiken von Wilhelm Lehmbruck. Seine außergewöhnliche Sammlung umfasste nach heutigem Wissen rund 500 Werke. 1927 bewirbt sich Böckstiegel ohne Erfolg als Nachfolger der verstorbenen Professoren Ludwig Godewols in Bielefeld und Otto Gussmann in Dresden – dort erhält Otto Dix die Professur, ein untrügliches Zeichen für die zunehmende Bedeutung der Malerei der »Neuen Sachlichkeit« in Dresden.
Mitte Mai 1929 beginnt er mit der Arbeit an seiner ersten Plastik, einem Bildnis der Mutter aus gebranntem Ziegelton. Böckstiegel möchte seine erste Einzelausstellung im 1928 eröffneten Städtischen Kunsthaus Bielefeld dazu nutzen, um mit neuen Werken an die Öffentlichkeit zu treten. Zu dieser Zeit hat er weiterhin viele Ausstellungen und kann auch Werke an Museen verkaufen, zudem engagiert er sich in der »Vereinigung westfälischer Künstler und Kunstfreunde«. 1930 bekommt Böckstiegel zudem das Stipendium der Deutschen Albrecht-Dürer-Stiftung in Nürnberg in Höhe von 500 Reichsmark zuerkannt.
Ende des Jahres muss der Künstler sein Atelier an der Zirkusstraße räumen und kann ein geräumiges und helles Atelier am Antonsplatz 1 beziehen. Hier arbeiten auch Otto Griebel, Erich Fraaß und Bernhard Kretzschmar. Trotz wirtschaftlicher Not und zunehmenden Auseinandersetzungen innerhalb der Dresdner Künstlerschaft wird Fritz Löffler die frühen 1930er-Jahre in dieser lockeren Ateliergemeinschaft später als die »letzten Tage der Bohème« bezeichnen.
Schon kurze Zeit nach Beginn der NS-Diktatur spürt Böckstiegel die Veränderungen im Dresdner Kunstleben. Im April 1933 wird sein Gemälde Stillleben (Bauernkind mit Äpfeln) von 1919 in der Dresdner Gemäldegalerie abgehängt – seine Protestschreiben an den Sächsischen Kultusminister bleiben unbeantwortet. Auf der wenig später im Dresdner Rathaus eröffneten Femeausstellung »Entartete Kunst« ist Böckstiegel dagegen nicht vertreten. Mit Beginn des Jahres 1934 wird Böckstiegel als Bildhauer und Maler Mitglied der Reichskammer der bildenden Künste und kann weiterhin, wenn auch mit mäßigem Erfolg, am Kunst- und Ausstellungsleben teilnehmen. Im Sommer 1937 werden in deutschen Museumssammlungen mindestens 92 Werke Böckstiegels als entartet beschlagnahmt – der allergrößte Teil davon muss als verloren gelten. Die Jahre des Zweiten Weltkrieges bleiben für Böckstiegel künstlerisch eine produktive und durch die Unterstützung seiner Kunstfreunde sogar wirtschaftlich erfolgreiche Zeit. Er beschreitet mit neuen Techniken und künstlerischen Ideen neue Wege, arbeitet an Glasfenstern und Mosaiken aus Glassteinen, an Reliefs aus gebranntem Ziegelton, entwirft mehrere Grabmäler für Friedhöfe in Dresden und Bielefeld – und macht den Wertheraner Stadtvätern im Jahr 1937 selbstbewusste, aber nicht umgesetzte »Vorschläge für die Stadtgestaltung«. Aufträge der Luftwaffe für die dekorative Ausgestaltung zweier Trinkstuben in Gotha und Köthen nimmt Böckstiegel an, es bleiben aber neben drei erfolglosen Bewerbungen für die »Große Deutsche Kunstausstellung« seine einzigen Annäherungen an das offizielle Kunstleben.
Wirtschaftliches Auskommen sichert ihm ab 1940 die Vermittlung von alter Kunst und vor allem von großen Konvoluten aus dem Nachlass des Dresdner Impressionisten Robert Sterl, für den er sich wie seine Bielefelder Kunstfreunde begeistern kann. In den letzten Kriegsjahren, es entstehen nur noch wenige Gemälde und Plastiken, beginnt Böckstiegel damit, seine Werke aus der Dresdner Innenstadt in Sicherheit zu bringen. Am 30. Oktober wird der 55-Jährige zunächst als »kriegsverwendungsfähig« gemustert, dann aber doch als »Landsturm A. II« freigestellt.
Während der verheerenden Angriffe auf Dresden in der Nacht vom 13./14. Februar werden Böckstiegels Wohnung und Atelier von Bomben getroffen und verwüstet. In dieser Nacht verliert der Künstler hunderte Gemälde, Plastiken, Zeichnungen und Aquarelle sowie Druckstöcke und Radierplatten – im Jahr 1949 kann Böckstiegel zumindest einige seiner verschütteten, aber erhaltenen Plastiken bergen. Er verlässt Dresden mit seiner Familie und kehrt er in sein Elternhaus zurück. Zurück in Werther, setzt sich Böckstiegel für den Wiederaufbau des Kulturlebens in seiner Heimat ein und knüpft alte Verbindungen nach Bielefeld und zu Künstlern im Ruhrgebiet. Böckstiegel wird als Erster Vorsitzender der »Westfälischen Sezession 1945« mehrere Ausstellungen organisieren und ist gleichermaßen darum bemüht, seine Verbindung nach Dresden nicht abreißen zu lassen.
Die erstmalige Rückkehr nach Dresden nach dem Krieg und seine Beteiligung an der »Zweiten Deutschen Kunstausstellung« geben Böckstiegel im Jahr 1949 die Hoffnung, wieder am Kunstleben der Stadt teilnehmen zu können. Böckstiegel erhält ein Ehrenatelier in der Dresdner Akademie und wird mit einer großen Einzelausstellung in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden gewürdigt. In Arrode hat der Künstler sich ein großzügiges Atelier an sein Elternhaus gebaut und arbeitet dort an neuen Werken, unter anderem beginnt er eine ganze Werkgruppe als Pastelle, die nach Werther gekommene Kriegsflüchtlinge zeigen. Erst in den letzten Lebensmonaten wird Böckstiegel auch in großformatigen Gemälden wieder an sein früheres Schaffen anknüpfen.
Am 22. März stirbt Peter August Böckstiegel in seinem Elternhaus in Arrode. Sein Sohn Vincent wird in den kommenden Jahren als Werbe- und Pressefotograf bekannt, seine Tochter Sonja hat zu dieser Zeit schon an verschiedenen deutschen Theatern als Schauspielerin Engagements. Seine Witwe Hanna wird bis zu ihrem Tod 1988 das Werk ihres Mannes erhalten, pflegen und vermitteln. Ihre Kinder setzen diese Bemühungen fort. Ein Freundeskreis gründet sich und erschließt Böckstiegels Werk in mehreren Werkverzeichnissen, eine Stiftung ist seit 2008 mit Erhalt und Pflege des Künstlerhauses und des rund 1300 Werke umfassenden Nachlasses betraut. 2018 wird das Museum Peter August Böckstiegel in Arrode eröffnet.